Ziehen künftig Arbeitnehmer aus anderen EU-Mitgliedstaaten in mitbestimmte Aufsichtsräte deutscher Unternehmen ein?
– Analyse nach den Schlussanträgen des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof vom 4. Mai 2017 –
Die mündliche Verhandlung vor dem EuGH
Der Europäische Gerichtshof scheint die Frage, ob die deutsche unternehmerische Mitbestimmung in ihrer derzeitigen Ausgestaltung mit Unionsrecht vereinbar ist, differenziert zu betrachten. Am 24. Januar 2017 fand die mündliche Verhandlung in der Rechtssache C-566/15 (Erzberger/TUI) statt, die dieses Thema zum Gegenstand hatte. Das Kammergericht hatte dem EuGH die Frage vorgelegt, ob es sich mit dem Unionsrecht verträgt, dass den Arbeitnehmern, die in ausländischen unselbständigen Betrieben und in ausländischen Tochtergesellschaften in anderen EU-Mitgliedsstaaten tätig sind, das Wahlrecht im Rahmen der deutschen Unternehmensmitbestimmung versagt ist.
In der mündlichen Verhandlung vor dem EuGH richteten – wie üblich – der zuständige Generalanwalt und der Gerichtshof auch gezielte Fragen an die Beteiligten. Daraus lassen sich vorsichtige Rückschlüsse auf die für den Gerichtshof und den Generalanwalt relevanten rechtlichen Gesichtspunkte ziehen.
Danach könnte der Gerichtshof differenzieren wollen, ob Arbeitnehmer als Angestellte der deutschen Gesellschaft in einem ausländischen unselbständigen Betrieb tätig sind oder ob sie bei einer konzernzugehörigen ausländischen Tochtergesellschaft angestellt sind. Für die zweite Konstellation wurden Zweifel deutlich, ob der von der Klägerseite gerügte Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) überhaupt vorliegen kann, da das dazu erforderliche grenzüberschreitende Element fehlen könnte.
Die EU-Kommission ließ sich dahingehend ein, dass zwar die Freizügigkeit tangiert sei, dies aber wegen der durch die Mitbestimmung verfolgten sozialen Ziele gerechtfertigt sei. Damit positionierte sich die EU-Kommission abweichend von ersten Stellungnahmen neu und verneinte eine Verletzung von Europarecht. Auch die Bundesregierung bejaht die Europarechtskonformität.
Während in den Plädoyers einiger Mitgliedstaaten das sogenannte „Territorialitätsprinzip“ großen Raum einnahm, hegte der Generalanwalt in der mündlichen Verhandlung Zweifel daran, ob dieses als Rechtfertigung dafür ausreicht, dass das deutsche Recht die Wahlbeteiligung nur den in deutschen Betrieben beschäftigten Arbeitnehmern einräumt.
Auswirkung auf Schwellenwerte für Mitbestimmung
Von der Vorlagefrage nicht unmittelbar umfasst ist der Gesichtspunkt, ob die im Ausland tätigen Arbeitnehmer auch für die Schwellenwerte mitzuzählen sind, die dafür maßgeblich sind, ob das DrittelbG bzw. das MitbestG anzuwenden ist, d.h. ob die Schwelle von 500 bzw. 2.000 Arbeitnehmern überschritten wird. Diese Frage lag kürzlich dem LG Frankfurt und sodann dem OLG Frankfurt als Beschwerdeinstanz im Fall Deutsche Börse vor. Das OLG Frankfurt hat das Verfahren mit Rücksicht auf das Vorlageverfahren Erzberger/TUI zum EuGH ausgesetzt. Es geht dabei um einen vom Wahlrecht zu trennenden Aspekt. Umso beachtlicher ist daher, dass der Gerichtshof auch hierzu Fragen hatte. Ihm ist offenbar bewusst, dass von einer Einbeziehung der ausländischen Arbeitnehmer in das aktive und passive Wahlrecht auch auf die Berücksichtigung dieser Arbeitnehmer für die Schwellenwerte geschlossen werden könnte. Letzteres würde dazu führen, dass ein erheblich größerer Anteil deutscher Gesellschaften aufgrund der plötzlich mitzuzählenden Arbeitnehmer im europäischen Ausland drittelparitätisch bzw. paritätisch mitbestimmt sein würde.
Schlussanträge des Generalanwalts
Am 4. Mai 2017 hat der Generalanwalt seine Schlussanträge verkündet, mit denen er dem Gerichtshof in gutachterlicher Form einen Entscheidungsvorschlag unterbreitet. Er geht darin grundsätzlich von einer Vereinbarkeit des deutschen Mitbestimmungsrechts mit dem Unionsrecht aus, unterscheidet jedoch mehrere Fallkonstellationen.
Der erste Fall betrifft in ausländischen Tochtergesellschaften einer deutschen Muttergesellschaft tätige (ausländische) Arbeitnehmer. Hier sieht der Generalanwalt bereits den Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit als nicht eröffnet an, da sich alle für die Beschäftigungsverhältnisse maßgebenden Elemente auf nur einen (nämlich den ausländischen) Mitgliedstaat beschränken.
Der zweite Fall betrifft in Deutschland tätige Arbeitnehmer, die in eine Tochtergesellschaft des gleichen Konzerns ins Ausland wechseln wollen. Zwar hält der Generalanwalt hier die Arbeitnehmerfreizügigkeit für anwendbar, kann aber keine Beschränkung erkennen: Die unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer ergibt sich nämlich aus den unterschiedlichen Mitbestimmungsrechten. Den Mitgliedstaaten stünde es aber frei, ob sie in anderen Mitgliedstaaten tätigen Arbeitnehmern das Wahlrecht gewähren. Darüber hinaus sei ein Verstoß gerechtfertigt, weil das deutsche Mitbestimmungsrecht das Wahlrecht der Arbeitnehmer in gezielter Übereinstimmung mit wirtschafts- und sozialpolitischen Besonderheiten gewährleiste.
Ein dritter Fall wird dagegen vom Generalanwalt ausdrücklich ausgeklammert: Arbeitnehmer, die in ausländischen unselbständigen Betrieben einer deutschen Gesellschaft tätig sind. Der Generalanwalt lässt aber Zweifel erkennen, ob auch dieser Fall mit der Begründung eines rein innerstaatlichen Sachverhalts wie im ersten Fall die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht tangiert.
Fortgang des Verfahrens
Der letzte Schritt in dem Verfahren ist die Verkündung des Urteils des EuGH, mit dem wohl nicht vor der Bundestagswahl 2017 zu rechnen ist. Der EuGH ist dabei nicht an die Schlussanträge des Generalanwalts gebunden. In der Mehrheit der Fälle folgt der EuGH jedoch dessen Auffassung. Die Quote ist für Urteile, die die Auslegung der europäischen Verträge selbst (Primärrecht) betreffen – wie auch hier in der Rechtssache Erzberger/TUI – aber deutlich geringer. Auch hinsichtlich des Umfanges der Entscheidung hat der EuGH ein weites Ermessen, so dass er – entgegen dem Generalanwalt – auch zur europarechtlichen Beurteilung der Arbeitnehmer in ausländischen unselbständigen Betrieben und zu den Schwellenwerten Stellung beziehen könnte. Eine Voraussage zum Ausgang des Verfahrens lässt sich daher auch nach den Schlussanträgen noch nicht treffen.
Konsequenzen für das deutsche Recht
Sollte der EuGH – anders als der Generalanwalt – die Mitbestimmungsvorschriften in ihrer derzeitigen Form ganz oder teilweise für unionsrechtswidrig halten, sind die Konsequenzen für das deutsche Recht offen. Darüber wird nicht der EuGH, sondern werden die deutschen Gerichte zu entscheiden haben. Denkbar ist einerseits eine unionsrechtskonforme Auslegung der deutschen Mitbestimmungsregeln in der Weise, dass im EU-Ausland tätige Arbeitnehmer wahlberechtigt sind. Sollte dies nicht umsetzbar sein, stünde die Unanwendbarkeit des Mitbestimmungsrechts im Raum – worauf der Gesetzgeber wohl in der gebotenen Kürze reagieren würde. Auswirkungen auf die Zusammensetzung und die Wirksamkeit der Beschlussfassungen der bestehenden Aufsichtsräte in der Vergangenheit hätte keine der beiden Varianten. Die Herausforderung wird dann darin bestehen, rechtssichere Wahlen der Arbeitnehmervertreter für die Zukunft durchzuführen, solange keine gerichtlichen oder gesetzgeberischen Leitlinien vorliegen.
Hinsichtlich der Schwellenwerte erscheint ein „Mitzählen“ der ausländischen Arbeitnehmer unionsrechtlich weniger geboten zu sein, so dass nach derzeitigem Stand mehr dafür spricht, dass es auf diesem Weg nicht zu einer Ausweitung der Mitbestimmung kommt. Allerdings bleibt auch dieses Thema bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofs offen. Ausschließen lassen sich Rechtsunsicherheiten sowohl hinsichtlich des Wahlrechts als auch der Schwellenwerte durch die Umwandlung der betroffenen Gesellschaft in eine SE oder die Durchführung einer grenzüberschreitenden Verschmelzung, bei der die Mitbestimmung nach den betreffenden Gesetzen durch Verhandlungen zwischen Unternehmen und der Arbeitnehmerseite festgelegt wird.
Hengeler Mueller wird die Diskussion und Entwicklungen weiter begleiten.